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1. Junggesellenpreis für Netzliteratur
: Begründung der Jury
1. Preis:
Florian Cramer: plaintext.cc
Die Jury hat den 1. Junggesellenpreis für
Netzliteratur Florian Cramer für seine Arbeit plaintext.cc
zugesprochen, weil sie ästhetisch reizvoll und mit einem durchdachten
und gewitzten Konzept zeigt, was Netzliteratur heute bedeuten kann. Zudem
bringt sie die Idee des Preises auf den Punkt.
Florian Cramer hat eine kleine autopoetische Junggesellenmaschine gebaut,
die ironisch einen „Kurzschluss bei Bedürfnis“ inszeniert.
Die prekäre Selbstverliebtheit, in der das Programm nach bestimmten
Regeln immer wieder anderen Text aus Texten erzeugt, vermag die Benutzer
gleichwohl in ihren Bann zu ziehen. Sie lockt auf falsche Fährten,
die, wenn man ihnen nur beharrlich folgt, doch zu überraschenden
Entdeckungen führen.
Der Automat - drei Maschinchen in einer - kontaminiert digitalen Code
mit poetischem Text: in Echtzeit eingelesene Daten des Computersystems,
auf dem er läuft, mit Passagen aus George Batailles „Geschichte
des Auges“ und einem Email-Dialog zwischen Florian Cramer und der
australischen Dichterin Mez. Jeder neu entstandene Text hat eine bestimmte
Anzahl von Transformationen und typographischen Formatierungen durchlaufen.
Visuell wird dabei ein Bezug zum Manuskript von George Perecs Hörspiel
„Die Maschine“ hergestellt, in dem sich ebenfalls ein Textgenerator
nach sich selbst verzehrt.
Dass aktuelle und historische Bezüge zur Kunst der Junggesellenmaschinen
so geschickt und dicht programmiert und dass mit der Reverenz an OULIPO,
die Werkstatt für potentielle Literatur, auch bezeugt wird, von welcher
poetischen Tradition plaintext.cc sich im Verfahren
herschreibt, unterstreicht die Preiswürdigkeit dieser Arbeit.
Lobende Erwähnung:
René Bauer: nic-las
Weitere Beteiligte: Joachim Maier, Daniel Staib
Nic-las ist eine soziale Software, die sich kollaborativ
und konkreativ nutzen lässt, die aber auch selbständig am Inhalt
mitschreiben kann und so zum autopoietischen Netzprojekt wird. Das Projekt
von René Bauer ist seit 1999 in Entwicklung, wird stets wieder
mit neuen Ideen und nützlichen Erweiterungen verbessert und hätte
für seine innovative Einzigartigkeit schon längst ausgezeichnet
werden müssen.
In der Nutzung des elektronischen Zettelbaukastens sind Autor und Leser
gleichgestellt, beide können am Entstehungsprozess des Textes mitarbeiten
und erhalten eine Palette von neuen Werkzeugen, welche Begriffsstrukturen
automatisch organisieren, Kontext aus externen und internen Quellen hervorbringen
und Objekte einbauen. Das „Digital-Unbewusste“ zeigt unvermittelt
Dinge, die gelöscht wurden. Das „Looking Glass“ ermöglicht
es, auf fremden Webseiten Kommentare anzubringen.
Das Medium ist Teilnehmer, Agent beim Lesen und Schreiben, es wird zu
einer sozialen Plastik, die sich ihre Struktur und Inhaltlichkeit selbst
erarbeitet.
Lobende Erwähnung:
Frank Klötgen: Endlose
Liebe - Endless Love
Nach Spätwinterhitze (2004) wartet Frank Klötgen wiederum
mit einem digitalen erzählerischen Leckerbissen auf. Sein neues Netzprojekt
Endlose Liebe - Endless Love ist eine gelungene Persiflage
auf Liebestragikomödien, die sich in zwei, drei, vier oder mehr Akten
durchspielen lässt. Endlose Liebe ist ausgestattet
mit 19 Liebes- und Leidensliedern, die Klötgen selbst mit der Band
Marylin's Army singt. Klangvolle und skurrile Requisiten ergänzen
die reduzierte Bühnenlandschaft des als "Trashical" bezeichneten
Online-Musicals. Lieder und Musik wurden von Joachim Schäfer komponiert.
Klötgen ist einer der wenigen deutschsprachigen Netzliteraten, die
einen Weg gefunden haben, Narration und Dramaturgie gewinnbringend mit
dem Medium Internet zu verbinden und sich dabei vor allem der Handlung
gegenüber verpflichtet sehen. Es gelingt ihm außergewöhnlich
gut, die uns geläufigen Mittel des Internets für seine skurrilen
Geschichten einzusetzen. Er arbeitet nicht mit hochauflösenden 3D-Grafiken,
nicht mit Flash-Animationen oder Code-Effekten, sondern mit unseren Erwartungen,
Wünschen, Sehnsüchten und Lastern.
Endlose Liebe - Endless Love ist in mehrfacher Hinsicht
ein doppelbödiges Theaterstück; es benutzt die performativen
Mittel des Computers und inszeniert den Bildschirm auf einfache Weise
als Guckkastenbühne. Hier nun spielen sich die Szenen und Akte des
Stücks ab. Die Figuren sind allesamt lediglich weiß auf schwarzem
Grund skizziert. Einzelne Dialoge erhalten ihren eigenen Rahmen in Pop-up-Fenstern.
Die sieben Protagonisten des Stücks liefern sich amüsante Liebeskämpfe
und Verwicklungen bis zum Mord. Der Ausgang aus dem Irrgarten der Gefühle
ist nicht leicht zu finden. Die Geschichte kennt mehrere unterschiedliche
Verläufe.
Lobende Erwähnung:
Dirk Schröder: Macelib
Ins Zentrum von Maclib stellt Dirk Schröder seinen
aufwendig programmierten Gedichtegenerator Wording,
der jedoch nicht beliebige Gedichte erzeugt, sondern versucht, ein ebenfalls
computererzeugtes Gedicht anzuzeigen. Das gelingt immer nur näherungsweise,
da weitere Algorithmen dieses Prozess stören. Alle verwendeten Programmcodes
stellt Schröder im Quelltext zur Verfügung. Außerdem kontextualisiert
er sein Projekt durch eine umfangreiche Linksammlung,
die auf wichtige Texte und Material zur automatischen Textgenerierung
verweist.
Der ganze Aufwand, und genau darauf zielt das Projekt, deutet letztlich
auf die Frage, die alle Gedichtmaschinen aufwerfen: Wenn der Text beliebig
neu generierbar ist, was genau macht dann noch die Qualität des einzelnen
Produktes aus? Oder anders gefragt: Muss nicht eine originär menschliche
Leistung, wie Intuition oder Unberechenbarkeit hinzutreten, um aus einem
Textkonstrukt ein Gedicht zu machen?
Dirk Schröders gelungene und konsequente Arbeit hat die Jury durch
ihre Originalität, die Komplexität ihrer Fragestellung und Ausführung
überzeugt. Georges Perec hat sein erwähntes Hörspiel damit
enden lassen, dass die Maschine am Schluss zusammenbricht, als sie ein
Goethe-Gedicht verbessern soll.
Auch Schröders Maschine läuft auf ein zerstörerisches Ende
zu. Während der Interessierte sich in den letzten sechs Wochen mit
dem Generator beschäftigen konnte, veränderte sein Verhalten
gleichzeitig, kaum merklich, die Webseite von Macelib.
Dieser einprogrammierte langsame Tanz der Webseiten endet am 11.11. um
24 Uhr mit einem furiosen Finale. Das Metaprogramm von Macelib
erstellt aus den „Abfall“-Daten von Wording
sowie den gesammelten Benutzerdaten ein Tableau und löscht Macelib.
Wer bei der Aufführung von Macelib nicht dabei war,
wird also nur noch das Schlussbild sehen und eine Dokumentation lesen
können, die das Versäumte beschreibt.
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Jury
Dr. Florian Höllerer (Literaturhaus Stuttgart)
Johannes Auer (Künstler und Kurator von Code
- Interface - Concept, Stuttgart)
Dr. Friedrich W. Block (Literaturwissenschaftler,
Künstler und Kurator der Literaturstiftung Brückner-Kühner,
Kassel)
Dr. Beat Suter (Literaturwissenschaftler und Herausgeber
der edition cyberfiction, Zürich)
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